Trotz aller Bedenken, meinen Bauplan in fremde Hände zu geben, noch dazu in amerikanische, habe ich vor ein paar Jahren bei MyHeritage einen DNA-Test zur „Ethnizitätsschätzung“ durchführen lassen. Ich hatte wenig bis keine Ahnung, mit was für einem Ergebnis zu rechnen sein würde, doch gab die Aussicht, meiner mir bis heute unbekannten, vermutlich in den USA lebenden oder dort gestorbenen Halbschwester auf diese Weise vielleicht auf die Spur zu kommen, letztlich den Ausschlag für meine Entscheidung.

Kaum war sie getroffen, bekam ich in einem dieser unauffälligen Umschläge, an denen Briefträger und Nachbarn erkennen können, dass man sich irgendeinen Schweinkram bestellt hat, eine Kunststoffphiole mit Teststäbchen zugesandt, wie sie Sexualstraftätern und Vaterschaftsleugnern in aller Welt wohlbekannt ist. Nun musste ich bloß ein paar Sekunden mit dem Wattestäbchen in der eigenen Mundhöhle herumschaben, das Ding zurück in die Phiole stecken und das Ganze mit einem weiteren unauffälligen Umschlag in den mittleren Westen der Vereinigten Staaten schicken, dorthin also, wo in den Labors zwischen den Waffenläden, Getränkeautomaten und Tankstellen die Forschungs-Elite des Landes im 24-stündigen Wettstreit um einen Wissenschafts-Nobelpreis ringt.

Das Ergebnis war in mehr als einer Hinsicht überraschend; hier ist es:

Zu fast einem Drittel aus Transsilvanien zu stammen und nur zu höchstens 12,6% Deutscher (wahrscheinlich Westfale) zu sein, übertraf zwar meine Erwartungen, irritierte mich aber nicht annähernd so wie die 50% skandinavischer Anteil. Nachdem ich gelesen hatte, dass jeder Elternteil die Hälfte des Genpools beisteuert, musste ich mich fragen, was es mit diesem Foto auf sich hat, das meine Mutter in Malmö zeigt?

Es hat ein paar Stunden gedauert und einer stark vertiefenden, nicht übermäßig kurzweiligen Fachlektüre bedurft, ehe mir klar wurde, dass die vollmundigen Versprechungen von MyHeritage, durch den Test mehr über die eigene Abstammung und unbekannte Verwandte zu erfahren, weitgehend Unsinn waren.

Was diese Analyse zeigt, ist ein Rückblick auf einen Zeitpunkt vor rund 20.000 Jahren, zu dem die Zuwanderung verschiedener, halbwegs homogener Ethnien in das Gebiet des heutigen Europa vorläufig abgeschlossen war. Anhand der unterschiedlichen DNA, die aus bisher neun archäologischen Funden menschlicher Überreste gewonnen und untersucht werden konnte, lassen sich (mindestens ebensoviele) Gruppen von Einwanderern definieren, die unabhängig voneinander und auf unterschiedlichen Routen in ihre Siedlungsgebiete gelangten, ehe sie sich im Lauf der folgenden Jahrhunderte unendlich vermischten. Da sich alle Angehörigen dieser Gruppen genetisch letzten Endes aber auf eine recht kleine Schar von „Afrikanern“ zurückführen lassen, die sich vor geschätzten 50.000 Jahren und aus unbekannten Gründen auf den Weg nach Nordosten machte, besagt diese Ethnizitätsschätzung zumindest, wie dieser Weg verlaufen ist.

Hier eine stark vereinfachte Darstellung:

world map of y-dna

Es handelt sich bei den „Skandinaviern“, die 50% meines Erbgutes ausmachen, demnach weder um Schweden, Norweger, Finnen oder Dänen nach heutigem Verständnis, sondern um eine Volksgruppe von „Proto-Europäern“, die über den heutigen Iran nach Westen zogen und sich irgendwo zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer aufspaltete. Ein Teil zog nach Norden und gelangte – im Laufe von Jahrtausenden – über das heutige Russland und Finnland auf die skandinavische Halbinsel, wo die natürliche Grenze der Nord- und Ostsee ihrer Wanderung zunächst ein Ende setzte. Erst in geschichtlich fassbarer Zeit wurden aus diesen Volksstämmen Nationen.

Zu 50% „Skandinavier“ zu sein bedeutet also, dass sich die Hälfte meiner Gene auf diese nördliche Schar zurückführen lässt; es bedeutet nicht, dass eine Reihe naher Verwandter oder gar ein Elternteil aus Skandinavien stammt.

Die andere Gruppe dieser „Proto-Europäer“ durchquerte übrigens Anatolien und beendete ihre Wanderung auf dem Balkan, wo sich deren Angehörige aufgrund unterschiedlicher Lebensbedingungen sowohl kulturell, wie auch in ihrem Aussehen völlig anders weiterentwickelten als ihre nach Norden gezogenen Verwandten.

Sie sind wiederum nicht identisch mit jenen anderen, eurasisch-stämmigen Balkanbewohnern, die weitere 28,5% meines Genpools ausmachen. Die gehören einer späteren Gruppe an, die möglicherweise erst im Rahmen der Völkerwanderung bis in den Balkanraum vorgedrungen ist.

Dann wären da noch 6,5% Osteuropäer, die von den Balkanbewohnern zu unterscheiden sind. Fragt sich bloß, wie? Sie dürften mehrheitlich slawischstämmig sein, wobei auch hier klar sein muss, dass von Zeiten die Rede ist, in denen die Slawen noch nicht wussten, dass sie Slawen sind.

Bleiben 2,4% Iberer. Wo die herkommen und wie es einem gemeinsamen Vorfahren von mir und der spanischen Fußball-Nationalmannschaft gelungen ist, sich in mein Erbgut zu dribbeln, dürfte so lange ein Rätsel bleiben, bis ich mich entschließe, mich einem richtig aufwendigen Y-DNA oder mtDNA-Test zu unterziehen. Auch hierfür gibt es mittlerweile kommerzielle Anbieter, sodass man nicht warten muss, bis man vom Jugendamt eingeladen wird. Die Preise für diese Untersuchungen rangieren allerdings knapp unter denen für ein Flugticket nach Japan – und unter diesen Umständen besuche ich dann doch lieber meine sehr, sehr entfernten und gar nicht Blutsverwandten dort.

Wer Lust hat, sich in das Thema einzulesen, kann hier auf englisch Erleuchtung erlangen.

In den milden, aber dennoch langen Winternächten 2019/2020 brachte der Test dann endlich ein so plausibles wie greifbares Ergebnis: eine bis dato unbekannte Cousine 3. Grades ward zutage gefördert; und diesmal nicht aus Osteuropa, sondern aus Großbritannien. Ihr Name wird hier selbstverständlich nicht ausdrücklich genannt, lässt sich aber nachfolgendem Stammbaum-Partikel entnehmen:

Die betreffende Person hatte ebenso wie ich einen DNA-Test bei MyHeritage durchgeführt, und das Programm tat, wofür es geschaffen worden war: es fand ein „match“ und machte uns aufeinander aufmerksam. Das war’s dann zwar (ja, es schwingt leichte Enttäuschung in diesem Satz mit), doch im Rahmen meiner Nachforschungen für obigen Stammbaum stieß ich auf einen Nachruf, der mir nicht nur einen bislang völlig unbekannten Urgroßvater bescherte, sondern auch noch ein Porträt desselben aus vor-fotografischer Zeit. In einem Nachruf in einer Lokalzeitung aus dem Raum Bielefeld wird des „Rentmeisters Rabente“ gedacht und dies mit seinem Konterfei:

Ohne sagen zu können, ob die etwas hölzerne Anmutung der Darstellung eher mangelndem Talent des Zeichners oder der tatsächlichen Persönlichkeit des Urgroßrentmeisters geschuldet ist, kann der Tränensack unter Großrabentes‘ linkem Aug‘ als hinreichender Beweis für Verwandtschaft angesehen und bestätigt werden: genau so sieht’s unter meinem rechten Auge auch aus! Und selbiges drücke ich jetzt zu, bis der weltweite DNA-Pool neue Wellen wirft.